Nachts um
elf am Duisburger Hauptbahnhof. Die Taxikutscher schlagen ihre Nachtschicht
tot, und selbst der Mond ist nur halb da. Ein paar junge Leute stehen
um die Kühlerhaube eines Autos am Ende der Taxischlange. Einer
von ihnen breitet eine Karte aus, sie zeigt die Stadt in kleinem Maßstab.
Aber vor allem verzeichnet das Meßtischblatt die Bahnstrecken
im Ort, die in den nächsten Stunden zur Beobachtung anstehen.
Denn die unauffällige Jugendgruppe wird sich in der Nähe
auf die Lauer legen, um die Route eines Atomtransportes zu dokumentieren.
Über Oberhausen nämlich führt ein verdächtiger
Schienenstrang nach Duisburg-Meiderich. Südlich der Ruhr, beim
Straßenverkehrsamt, wird die A 40 überbrückt. In
Richtung Innenstadt gabelt sich die Strecke und führt sowohl
durchs Univiertel als auch durch den Hauptbahnhof nach Düsseldorf.
Auf diesen Gleisen könnten heute nacht Castoren rollen.
Man kann sie selbst bei Dunkelheit leicht erkennen: Die auffälligen
Metallbehälter laufen auf vielen Achsen und sind immer direkt
hinter der Lok vor einen normalen Güterzug gekoppelt. Ein solcher
Lastzug startet üblicherweise im hohen Norden, denn in den
Castor-Transportbehältern werden die abgebrannten Brennelemente
der niedersächsischen Atomkraftwerke Krümmel und Grohnde
verschoben. Etappenziel des Atommülls ist die französische
Hafenstadt Dunkerque. Von dort aus werden sie zur britischen Wiederaufbereitungsanlage
Sellafield verschifft. Im Bahnhof machen sich jetzt Christof und
Petra auf den Weg zu ihrem Posten.
Gerade verläßt ein Stadtexpress Gleis 6. Die beiden
haben Kamera, Blitz und Stativ dabei, am Ende eines Bahnsteiges
bauen sie ihre Technik in Richtung Osten auf. Um warm zu werden,
verfolgt Christof ein paar einlaufende Güterzüge mit dem
Zoomobjektiv. Ein Gleisbau-Zug mit Nachtarbeitern, in schreiend
orange gewandet, nähert sich gemächlich. Kein Grund zur
Sorge für die Späher. "Blitz' ich aber die Lokführer
zu auffällig an, funken die das zum Bundesgrenzschutz weiter",
sagt der Dinslakener Schüler, "und wenn die uns dann kontrollieren,
machen wir nur harmlose Bildchen für die Schülerzeitung."
Christof und Petra beobachten nächtliche Atomtransporte nicht
zum ersten Mal. "Mich stört einfach, daß die Bevölkerung
über die Gefährdung durch Atomtransporte nicht informiert
wird, obwohl davon jährlich Hunderte stattfinden", sagt
Petra zu ihrer Motivation.
Schon vor zwei Wochen lag sie mit Christof bei Eiseskälte
auf der Lauer, als ein Transportzug eine alternative Route nahm.
Die diversen Spähergruppen entlang der Bahnstrecke vermerken,
daß kurz nach drei Uhr nachmittags zwei Waggons mit Castor-Transportbehältern
das Betriebsgelände des Atomkraftwerks Krümmel verließen.
Nach 22 Uhr querte der auffällige Güterzug Münster
und zog etwa eine Stunde später über die Strecke der Köln-Mindener
Eisenbahn durchs Ruhrgebiet. Via Dortmund-Gelsenkirchen-Essen-Oberhausen.
"Auch in Duisburg konnte man merken, daß sich was tut",
erinnert sich Christof, "plötzlich war der ganze Bahnhof
voll von Grenzschützern".
Dem Bundesgrenzschutz obliegt es, das Streckennetz der Bahn zu
hüten. Lediglich der BGS weiß Bescheid darüber,
wann welcher Atomtransport welcher Strecke nimmt. Katastrophenschützer
und Gemeinden werden nicht einbezogen. Anderen Streckenspähern
gelang es schließlich am Düsseldorfer Bahnhof Eller Süd,
die beiden Castoren abzulichten. "Die Idee der Streckenbeobachtungen
haben wir direkt nach Tschernobyl entwickelt", sagt Heide vom
Dortmunder Anti-Atom-Büro, "nachdem uns klar geworden
ist, daß das Schienennetz der Bahn die Lebensader der Atomindustrie
ist". Sind nämlich in den AKWs die Brennelemente abgefackelt,
müssen deren Betreiber diese in den vermeintlich sicheren Castoren
auf die Schiene setzen.
Entweder in Richtung Wiederaufbereitung ins Ausland. Oder in sogenannte
Zwischenlager. Nach Ahaus etwa. Über die Jahre betrieben die
Dortmunder Anti-AKW-AktivistInnen eine aufwendige Recherche in Sachen
Atomtransporte. "Beispielsweise haben wir herausgefunden, daß
die Güterzüge mit den Castoren nach regulären Fahrplänen
fahren", erzählt Heide, "und zwar immer so, daß
keine Wochenend-Arbeit anfällt". Auch die Transporte der
305 Castoren aus dem stillgelegten Thorium-Reaktor in Hamm- Uentrop
in Richtung Ahaus wurden von den Spähern bebobachtet. "Nachdem
wir in Hamm erstmals mit Fahrrädern aufgekreuzt sind, mußten
sich die Werkschützer auch welche anschaffen", erinnert
man sich.
Zu Hochzeiten des Trainspottings gab es im Bundesgebiet rund 20
Spähergruppen. Nahe den AKWs und entlang der Transportstrecken.
Anfang der 90er veröffentlichten sie ihre Ermittlungsergebnisse
in einer Streckenkarte. In Sachen Zugtransport kritisieren die Atomkraftgegner
erstmals, daß er erhebliche Gefahren birgt: Selbst auf kürzere
Entfernung sei die von den Castorbehältern ausgehende radioaktive
Strahlung gefährlich. Und im Falle eines Unfalls könnte
die Umgebung bis zu einem Radius von 50 Kilometern verseucht werden.
Zudem werden die bei den Transportbehältern zugrunde gelegten
Sicherheitstests als unzulänglich kritisiert. Um drei Uhr morgens
hocken Dirk und Kai leicht bibbernd unter einem Tarnnetz auf Isomatten
an der Bahnlinie in Duisburg-Kaiserberg.
Hinter ihnen die Autobahn, die Uni in Sichtweite. Auch sie sind
nächtens auf dem Ansitz in Sachen Castor-Abschuß. Scheinwerfer
und Videokamera sind startklar. Wenn jetzt Kais Handy piepst, wissen
die beiden, daß sich der Castor nähert. Ein Posten weiter
vorn sah dann soeben, welche Verzweigung das Zielobjekt nahm. Dann
hält Dirk mit der Kamera drauf, und Kai gibt die Nachricht
weiter. Die nächsten Späher stehen in Düsseldorf,
Langenfeld und Köln. Sämtliche anonymen Streckenspäher
sind am Tag X sicher auch in Ahaus. Doch vorher veröffentlichen
sie eine Karte mit den Bahnstrecken der Atomtransporte.
Damit es auch nach Ahaus weitergehen wird.
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